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Flüchtlingsfamilie 1944

Dankbar über den Tod hinaus

Maria Krüger

  Maria Krüger

Mitte Juli erhielt ich einen Anruf aus Chemnitz mit der Bitte, sich mit einer Jänickendorfer Bürgerin in der Museums-Scheune bei einer Tasse Kaffee treffen zu können.
Auf meine Frage, aus welchem Anlass das Treffen gerade hier in Jänickendorf im Museum stattfinden soll erfuhr ich, dass dieses auf ein Ereignis während des 2. Weltkrieges zurück zu führen ist. Wir vereinbarten einen Termin für den 23. Juli 2022 in der Museums-Scheune.
Natürlich erwartete ich den Tag mit Neugierde, weil solche Begegnungen für mich als Ortschronistin immer wieder mit neuen Erkenntnissen zur Geschichte und zu Geschehen in unserem Ort verbunden sind. Und so war es dann auch:
An diesem Nachmittag lernte ich die 68-jährige Annaliesa Lindner geb. Krüger und ihren Mann kennen. Die Person, mit der sie sich hier treffen wollten, ist die 95-jährige Helga Wienicke aus Jänickendorf, mit der sie eine gemeinsame Geschichte verbindet.
Die Großmutter von Frau Lindner, Elisabeth Schierling, geboren am 19.09.1894 in Schatz/Ukraine, musste mit ihren 4 Kindern 1944 ihre damalige Heimat verlassen. Viele Tage waren sie mit dem nötigsten Hab und Gut auf dem Pferdewagen unterwegs. Ihr Fluchtweg führte sie auch über Polen. Hier fanden sie einige Zeit Unterkunft in einem Haus, aus dem die Eigentümer von den Nazis vertrieben oder auch getötet worden waren.
Am 8. November 1944 erhielt die Mutter vor Ort eine Einbürgerungsurkunde für sich und die 4 Töchter. Das Gebiet um die westpolnische Stadt Kościan gehörte von 1815 bis 1918 als Kreis Kosten zur preußischen Provinz Posen. Im Zuge des Großpolnischen Aufstandes kam der Kreis Ende Dezember 1918 unter polnische Kontrolle. Mit der Unterzeichnung des Versailler Vertrags am 28. Juni 1919 wurde der Kreis Kosten auch offiziell an das neu gegründete Polen abgetreten.
Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges besetzten deutsche Truppen den westpolnischen Bezirk Kościan; die Kreisstadt Kościan wurde am 7. September 1939 eingenommen.
Am 26. Oktober 1939 wurde der Bezirk unter der Bezeichnung Landkreis Kosten (ab dem 18. Mai 1943: Landkreis Kosten (Wartheland)) an das Deutsche Reich angeschlossen. Die Annexion war als einseitiger Akt der Gewalt aber völkerrechtlich unwirksam. Der Landkreis wurde Teil des Regierungsbezirkes Posen im Reichsgau Wartheland.
(Mit dem Einmarsch der Roten Armee im Januar 1945 endete die deutsche Besetzung.)

Die Einbürgerungsurkunde im November 1944 in der Hand begab sich die Großmutter mit den ihren 4 Kindern nun als deutsche Staatsangehörige (Reichsangehörigkeit) weiter nach Deutschland. Hier nahmen ihr die sowjetischen Soldaten sofort erst einmal Pferd und Wagen weg. Die Flüchtlinge wurden auf verschiedene Orte verteilt.
Frau Schierling fand mit ihren Töchtern Maria, Martha, Tina und Agnes eine Bleibe in Jänickendorf bei Frau Lehmann, der Mutter von Frau Wienicke, die sie mit viel Verständnis aufnahm. Eine Stube wurde für sie mit Stroh zum Schlafen ausgelegt. Helga musste nun mit ihrer Mutter im Wohnzimmer schlafen. Bei der Ankunft der Familie in Jänickendorf war Helga auswärts zur Arbeit (sogenanntes Pflichtjahr). Als sie nach Jänickendorf kam wurde sie von Einwohnern des Dorfes mit folgenden Worten empfangen: Kannst gleich wieder umkehren! Hast ja kein Bett mehr zum Schlafen!
Helga Lehmann ging natürlich trotzdem Nachhause und lernte Frau Schierling und die Töchter, die alle etwa in ihrem Alter waren, kennen. Frau Lehmann erhielt im Haus und auf dem Feld durch sie Unterstützung bei der Arbeit.Brief an Bundespräsident Schäublepg
Nach Kriegsende mussten die „Fremdarbeiter“ wieder zurück in die Sowjetunion, viele von ihnen wurden nach Sibirien gebracht. Erst 1956 nach dem Tod von Stalin durften sie von dort weg und bekamen endlich auch Ausweispapiere. Das erlebte die Großmutter Elisabeth Schierling nicht mehr. Ihre Familie ging nach Kasachstan (Alma Ata), weil Deutsche dort nicht so verhasst waren. Sie wurden von einem Bauern aufgenommen, der froh war, gute und fleißige Helfer zu bekommen (Dafür waren die „Russland - Deutschen bekannt).
Die älteste Tochter Maria, verheiratete Krüger, folgte 1973 dem Vorschlag ihres Mannes, nach Deutschland zu gehen. Er wollte in die „alte Heimat“ zurück, um seinen Kindern eine gute Zukunft zu ermöglichen. 1973 zog die Familie mit ihren 7 Kindern nach Karl- Marx-Stadt; heute Chemnitz.
Kurze Zeit darauf nahm Maria Krüger Verbindung zu Familie Lehmann/Wienicke auf, um sich nach so vielen Jahren für die Hilfe und das Verständnis gegenüber ihrer Familie während des 2. Weltkrieges zu  bedanken. Ab diesem ersten Treffen kam sie jedes Jahr einmal zu ihr.
Später beantragte Annaliesa Lindners Vater die deutsche Staatsbürgerschaft, mit deren Verleihung sich ein lebenswichtiger Kreis für die Familie geschlossen hat - so der Vater in einem Dankschreiben an den damaligen Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble.
Nach dem Tod der Mutter setzte die Tochter Annaliesa Lindner geb. Krüger diese lebenslange Freundschaft fort und diese währt bis zum heutigen Tag – 77 Jahre nach Kriegsende.

G. Bölke/Jänickendorf (im August 2022)

 

Helga Wienicke und Annaliesa Lindner am 23.Juli 2022 in Jänickendorf

Helga Wienicke und Annaliesa Lindner am 23. .Juli 2022 in Jänickendorf

 

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