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Flüchtlingsfamilie Schmidt 1945

Eine Begegnung, die mich tief berührt hat

Deonilla BrandtAm 5. September erhielt ich von einer Dame aus Dresden telefonisch die Anfrage, ob man bei mir die Ortschronik von Jänickendorf einsehen kann. Auf meine Frage nach dem Anlass dafür antwortete mir die Anruferin, dass sie 1945 mit ihren Eltern auf der Flucht nach Jänickendorf kam und mehr über diese Zeit erfahren möchte. Wir verabredeten uns für den 7. September 2023.
An diesem Tag begegnete ich einer sehr aufgeschlossenen, attraktiven Frau, der man keinesfalls das Alter von 90 Jahren ansieht. Sie kam in Begleitung ihrer Tochter Viola.

Deonilla (Lilli) Brandt, geb. Schmidt wurde 1933 in Malkotsch/ Rumänien  (heute Malcoci) geboren. Das Dorf wurde im Jahre 1842 von deutschen Siedlern gegründet, die aus wirtschaftlichen Gründen im frühen 19. Jhdt. ihre Heimat verließen. 1940 wurden die meisten der deutsch stämmige Bevölkerung nach Deutschland umgesiedelt und 1942 in kriegerisch eroberte Gebiete nach Polen verbracht. Von dort mussten sie als Deutsche kurz vor Kriegsende vor der roten Armee flüchten.
Dazu gehörte auch die Familie von Deonilla Schmidt: ihre 1898 geborene Mutter sowie ihre zwei Schwestern mit Kindern. Im Januar 1945 kam die Familie mit einem Treck nach Jänickendorf. Der Großteil der Flüchtlinge stammte aus Malkotsch.

Deonilla erinnert sich am 7. September 2023 an diesen Tag, als wäre es erst gestern gewesen.

Es war ein Sonntag und die Kirchenglocken läuteten – wie ein feierliches Willkommen. Aber willkommen waren die Flüchtlinge bei dem Großteil der Bevölkerung nicht!
Die Mutter kam mit der 12-jährige Deonilla (Lilli) bei Familie Schmiedecke/Schütte in Dorfmitte unter. Die erwachsenen Töchter mit ihren Kindern bei zwei anderen Familien im Dorf. Die Flüchtlinge halfen den Familien bei Arbeiten in deren Wirtschaft.
Der Vater wurde noch acht Tage zuvor zum Volkssturm eingezogen. Er hatte sich mit weiteren Soldaten hinter einem Strohschober versteckt, um nicht mehr kämpfen zu müssen. Er schloss sich bei passender Gelegenheit einem Treck an und kam nach Luckenwalde. Hier konnte ihm ein Schwarzmeer-Deutscher berichten, dass seine Familie in Jänickendorf untergekommen ist. Später erfuhr er, dass seine Kameraden, die sich mit ihm versteckt hatten, alle durch Erschießen ums Leben gekommen waren.
Am 20. April 1945 begann gegen 23.00 Uhr der Beschuss des Dorfes durch die rote Armee von Richtung Baruth aus bis morgens. Gegen 7.00 Uhr kam ein russischer Offizier in Begleitung mehrerer Soldaten und führte Befragungen bei den Bewohnern im Dorf durch. Ein alter Herr aus Berlin, Onkel Gütz, sollte sich nach der Befragung mit einem Bund Stroh auf den Hof begeben. Die 4-jährige Ingelore Schütte kam kurz darauf in die Stube und sagte, dass der Onkel draußen im Garten schläft – die Russen hatten ihn erschossen. Herr Schmidt hat ihn später dort begraben.
Auch der Vater von Lilli wurde befragt. Er hatte Glück – er sollte das Haus verlassen, aber ihm passierte nichts. Er hatte sich im Backhaus des Grundstückes versteckt. Auch im Haus nebenan fand man einen Flüchtling erschossen auf. Er hatte keinerlei Papiere bei sich – nur ein kleines Passbild, das mit dem Ortsnamen Bremen gekennzeichnet war.
Viele der Einwohner hatten sich bei Ankunft der Russen in den Wald geflüchtet, wo sie immer wieder laute Schreie und Hilferufe hörten. Nach Tagen begaben sich die meisten wieder in ihre Häuser. Hier wurden viele Mädchen und Frauen misshandelt. War es Nacht, warfen die Vergewaltiger das Deckbett von den Füßen weg über das Gesicht ihrer Opfer. Wollten sie dadurch nicht in deren entsetzte Augen sehen und das qualvolle Bitten um Hilfe und von ihnen abzulassen nicht hören? Ihnen beizustehen war nicht möglich – die Soldaten drohten uns mit Erschießen.
Lillis Mutter wollte nach ihren beiden anderen Töchtern sehen. Sie band sich eine weiße Armbinde um und ging mit ihr zu deren Unterkünften. Im ersten Haus trafen sie niemanden an. Nur ein Toter in Bahnuniform lag im Hausflur. Sie begaben sich weiter in Richtung Bahnhof, wo sie auch keine der beiden Töchter antrafen. Aber hier erfuhren sie, dass diese mit deutschen Soldaten in Richtung Oder geflüchtet waren. Beide kamen später wieder nach hier zurück und wohnten mit bei Familie Schütte im Keller.
Der Bruder Willi von Lillis bester Freundin, Wilma Franz, wurde von dessen Freund im Wald erschossen gefunden. Er wurde in eine Decke gewickelt und zum Friedhof gebracht. Ein weiterer Junge, bei dem die russischen Soldaten eine Pistole gefunden haben, wurde ebenfalls erschossen.
Da in Jänickendorf zahlreiche Gebäude durch den Beschuss der Russen zerstört waren
(Anmerkung Ortschronistin: Der damalige Bürgermeister Hannemann hatte den Befehl gegeben, das Dorf bis zum letzten Mann zu verteidigen und noch den Volkssturm angefordert) begab sich Familie Schmidt im Mai/Juni nach Meinsdorf. Dort half der Vater bei einem Bauern.
1949 zog die Familie nach Felgentreu, wo eine der beiden Schwestern inzwischen verheiratet und schwer erkrankt war. Hier arbeitete Lilli als Kindergärtnerin; später in Luckenwalde.

Heute wohnt sie, wie auch ihre Tochter Viola, in Dresden. Trotz ihres hohen Alters in einer eigenen Wohnung.
Oft fahren beide noch nach Luckenwalde. Dabei kommen sie auch immer durch Jänickendorf. Deonella Brandt wird dann stets an diese schreckliche Zeit erinnert, die sie mir sehr bewegt geschildert hat. Ich bin ihr sehr dankbar, dass ich dadurch meine Niederschrift zu den Kriegstagen in Jänickendorf am 21./22. April 1945 weiter vervollständigen kann.
Dass sie noch heute, nach 78 Jahren, unter diesen Erlebnissen leidet, fühlte ich während unseres 1 1/2 stündigen Gesprächs. Oft hatte sie Tränen in den Augen oder ihre Stimme wurde leise, versagte ganz.

 

Deonilla Brandt hat diese Niederschrift gelesen und deren Veröffentlichung sowie Einbindung in die Jänickendorfer Kriegsgeschichte zugestimmt.

Gisela Bölke/Ortschronistin im November 2023
 

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